Kirow Und Das Schwarze Loch

Im Archiv findet man zahlreiche Aufnahmen von einer Beerdigung. Auf den von den Trauernden getragenen Porträts sieht man das runde Gesicht des Toten, seine Augen beinahe zusammengepresst vorm Lächeln. Man sieht Massen von Menschen, eine Furore fast größer als die bei Lenins Beerdigung. Die Kamera schwenkt über die Gesichter. Rotarmisten, Parteiabgeordnete. Reden, gewidmet an den Toten. Nasse Augen. Beinahe zitternde Stimmen.
Es ist die Beerdigung von einem Kirow. Man findet im Archiv zahlreiche Dokumentarfilme über ihn, produziert kurz nach seinem Tod. Sein rundes, fast schon kindisches Gesicht taucht überraschend oft im Footage auf.
Wer war Kirow? Man muss es nicht wissen. Was wichtig ist, ist sein Tod.

Circe Archiv. Film Nr:4747

1934 wird Kirow umgebracht. Erschossen auf dem Weg zu einer Parteiversammlung. Es sei eine trotzkistische Verschwörung, sagt man.1 Der Mord an Kirow wird vom Staat als Startschuss für die Repressionen, den Großen Terror, benutzt. Es folgen die Moskauer Schauprozesse. Stalins größte Gegner, Kamenew und Zinowjew, werden als Mitverschwörer Trotzkis verurteilt und aus der Regi erung entfernt. Die sog. “Kirow Welle” der Repressierten fließt aus Leningrad in die Lager. Viele Opfer waren die Bolschewiki selbst, vor allem die der “alten Garde”, die Mitarbeiter des Politbüros, NKVD und anderer Staat sorgane. Öffnet die Wikipedia Seite von einem beliebigen Revolutionär. Schaut euch das Todesjahr. Das Footage nimmt einen neuen Charakter an, sobald man das versteht. Die Kamera macht denselben Schwenk über die Gesichter. Der Großteil von denen sind NKVD und KGB Mitarbeiter, Rotarmisten. Man fragt sich, wer von diesen Menschen, die gerade den Toten beweinen (ob ehrlich oder nicht), die nächsten 5 Jahre überleben wird. Später gibt es Gerüchte, dass das Attentat auf Kirow vom Staat selbst geplant sei.2 Die Kamera schwenkt über eine Reihe NKVD Männer. Ich frage mich, ob einer von denen die Wahrheit weiß. Ob einer von deren dabei war (04:11). Man schaut sich diese Aufnahmen an, und sieht eine Beerdigung. Man sieht Trauernde. Man schaut sich die Dokumentationen über Kirow und sieht nichts anderes als eine durchschnittliche Doku über einen durchschnittlichen Parteikader.

“Mein Freund Iwan Lapschin” (1985), Kirows Porträt im Hintergrund

Es erinnert mich an Alexej Germans Film “Mein Freund Iwan Lapschin”. Der Film ist eine teleskopische Betra chtung der 30er durch die Linse der 70er. Es geht um das Jahr 1935 in einer Kleinstadt. Wir verfolgen das Privatleben des Polizisten Lapschin und seiner Freunde. Er streitet sich mit seinen Mitbewohnern. Sein bester Freund versucht, sich umzubringen. Die Frau, die er mag, liebt einen anderen. Kirows Porträt, welches nach seinem Mord im Büro jedes Polizisten hing, lächelt im mer wieder am Rande des Shots.3
Natürlich kann man den Film auch ohne den Kontext genießen. Es ist ein guter Film, eins der besten, die ich gesehen habe; man nimmt das Liebesdreieck, oder das beeindruckende Produktionsdesign, auch ohne Kontext wahr. Aber das stumm lachende Porträt ändert den ganzen Film. Es lässt uns wissen, “Oh, alle diese Menschen werden in 3 Jahren tot sein.”
Was will ich damit sagen? Ich glaube, es lohnt sich immer, mehr, mehr Kontext wissen zu wollen.
Irgendwo, (und ich weiß leider wirklich nicht, wo. Ich meine, das müsste ein Text von Boris Groys gewesen sein.) hat ein Autor von einem schwarzen Loch im Selbstverständnis des (post)sowjetischen Menschen geschrie ben. Das Loch ist 1937/38. Nach der Entlarvung des Persönlichkeitskults tat die neue Regierung ihr bestes, um die Vergangenheit nicht zu konfrontieren. Stalins einbalsamierter Körper wurde begraben. Wir wollten es nicht mehr sehen. Wir wollten nicht darüber nachdenken, was es für uns bedeutet hat. (Was ist eigentlich dieses “wir”? Was ist es für mich?) Als German seinen Film den Zensoren präsentierte, kam dererseits die Aussage, “Lassen Sie 1935 in Ruhe.”4 “Lapschin” sagt, “Sowjetischer Mensch aus den 70ern, schau dir dein Leben an. Ist es das Jahr 1937 wert?” Der Film bleibt ambivalent genug, dass die Antwort in beide Richtungen gehen kann. Und was sagt der Film zu uns, in den 2020ern?

Was ist Erinnerungskultur? Was ist erfolgreiche Erinnerungskultur? Diese Frage geht mir angesichts des Gaza Genozids und des Ukraine Krieges nicht aus dem Kopf. Erfolgreiche Erinnerungskultur. Gibt es so was? Ich zwinge mich, ins schwarze Loch zu schauen. Das Loch ist 1937. Das Loch ist das weinende Gesicht eines NKVD Mannes, der sehr wohl derjenige sein könnte, der Kirow erschießen ließ. Jetzt weint er auf seiner Beerdigung (01:52). Das Loch ist die Internationale, ein Lied, das in in jeder Sprache gleich ist, gemischt mit dem Aufschrei der Maschinen (06:18), als wir über den Köpfen der Toten, der Repressierten, der Weinenden, fliegen.
ist unsere Verantwortung, ist schwarze Loch zu schauen. Ich weiß nicht, vor wem, ich weiß nicht, wofür. Zumindest möchte ich glauben, dass es eine Verantwortung ist, die jeder von uns gegenüber sich selbst trägt. Genau dorthin zu schauen, wo es am meisten weh tut.
Widersprüche treiben die Geschichte voran, oder so was in der Art.

1 ‘August 22, morning session. The Trotskyite-Zinovievite Centre Killed Comrade Kirov’, Moskauer Schauprozesse, 1936 // https://www.marxists.org/history/ussr/government/law/1936/moscow-trials/22/killed-kirov.

2 Leon Trotsky, ‘On the Kirov assassination’, verfasst in 1935, Pioneer Publishers 1956 // https://www.marxists.org/archive/trotsky/1934/12/kirov.htm Notiz zu diesen zwei Quellen: Die Quellen, die ich zitiere, sind ganz klar nicht “objektiv”; es geht mir aber nicht darum, wer Kirow tatsächlich erschießen ließ, sondern um die Gerüchte ums Attentat herum.

3 Der Film ist auf Youtube mit überraschenderweise akzeptablen Untertiteln, aber leider in sehr schlechter Auflösung. Wer eine HD Version haben möchte, kann mich privat ansprechen
TW: Gewalt, sexualisierte Gewalt, Selbstmord // https://www.youtube.com/watch?v=vFZa9CVBeJY&t=20s

4 Tony Wood, ‘Time Unfrozen: The Films of Aleksei German’, NLR 7, January–February 2001 // https://newleftreview.org/issues/ii7/articles/tonywood-time-unfrozen-the-films-of-aleksei-german
Ich könnte leider keine Primärquelle für das Zitat finden, aber es geht mir schon seit Jahren nicht aus dem Kopf. Als eine indirekte Bestätigung der Aussage des Zitats möchte ich nur anmerken, dass es meines Wissens nach so gut wie keine andere sowjetische Filme gibt, die in der 30ern spielen!